Die Atomfabriken im Nordwesten der Republik sind der blinde Fleck des deutschen Atomausstiegs. Damit nicht vergessen wird, dass von dort die halbe Welt mit angereichterem Uran und Brennelementen beliefert wird, findet seit langem jährlich eine Demo in Lingen statt. Diesmal auch mit Bussen aus Aachen und dem Wendland. Das neu gegründete Bündnis AgiEL (AtomkraftgegnerInnen im Emsland) hatte ein Motto gewählt, das den Altersdurchschnitt der Demonstranten deutlich senkte. Die Rote Karte sollte nicht nur Atom sondern auch der Kohle gezeigt werden. Eine große Gruppe aus dem Umfeld von Fridays 4 Future Münster brachte mit kreativen Sprechchören Leben in die größte Kleinstadt weit und breit. Dass dies zu einer besonders denkwürdigen Veranstaltung wurde, hatte allerdings mit einer sehr speziellen Polizeipräsenz zu tun, die bedrohlich von dem abwich, was zuvor zwischen Versammlungsleitung und Polizei vereinbart wurde. Und das war das Übliche gewesen für eine angemeldete Demo: Je ein Polizeifahrzeug vorneweg und hinterher und ein paar Schutzpolizisten, die den Verkehr regeln. Stattdessen tauchte schon bei der Auftaktkundgebung am Bahnhof eine Einheit der Bereitsschaftspolizei auf. Zu Beginn der Demo stellten sie sich in bestimmten Formationen auf, die man/frau wohl auf dem Hof der Polizeikaserne lernt. Die Demo sollte durch ein Spalier der Eingreiftruppe in die Fußgängerzone marschieren. Dazu ein Augenzeugenbericht, den ein Aachener Teilnehmer an das Lingen- Netzwerk geschickt hat. “Es war nicht die größte Lingen- Demo. Es war aber die entschlossenste! Vor allem hat mich die Versammlungsleitung des AgiEL beeindruckt. Dem provokanten Polizeiaufmarsch (z.T. in “Kampfmontur”) durch beharrliches Stehenbleiben zu widerstehen, war eine große und mutige Leistung. Chapeau! Immer solange wieder-stehen bleiben, bis die Truppe am Straßenrand sich dorthin bewegte, wo sie hingehört — wenn sie schon da ist: An den Anfang oder das Ende des Zuges. Das musste ein paar Mal wieder-holt werden, bis sie es kappiert hatten. Es war für mich nach vielen Demoerfahrungen das erste Mal, dass ich erleben durfte, wie einige Hundert Menschen friedlich, aber bestimmt eine Polizeitruppe dirigiert haben. Offensichtlich waren einige von ihrer Einsatzleitung — nach ihrer Kleiderordnung zu urteilen — darauf eingeschworen worden, “Krawallmacher” raus zu picken. Schließlich wurde ja ein deutlich sichtbares Transparent mit “Ende Gelände- Logo” mitgeführt und auch eine schwarz/rote Fahne war zu sehen. Oh Gott, wirf Hirn herunter. Kennt ihr immer noch nicht deren Gandhischen Kodex? Aber klar, eure Heeresleitung braucht die Feindbilder und zur Not provoziert sie die Krawalle selber, oder was? Wenn das eure Rechnung war, dann haben wir alle sie euch heute gründlich vermasselt 😉 Es war die kollektive Besonnenheit, die es ermöglichte, dass die Demo bereits jetzt großes Echo in den Medien ausgelöst hat, und zwar ein solches, das sich mit den Inhalten unserer Forderungen auseinandersetzt. Das Finale der Kommunikation mit der Einsatzleitung soll nicht verschwiegen werden: Als sich nach dem Abbiegen von der Fußgängerzone an einem kleinen Platz, doch nochmal die Eingreiftruppe in voller Breitseite entlang der Demoroute präsentierte, weigerten wir uns alle im vorderen Block, dieses Spießrutenlaufen mit zu machen. Und dann kamen uns die wendländischen Xambistas zu Hilfe, stellten sich davor und zeigten, wer hier den Rhythmus vorgibt —
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