Absolut lesenswert!

Foto: Jan­nis Mattar/dpa

Ein Artikel der Bon­ner Jour­nal­istin Ani­ka Lim­bach im “Fre­itag” vom 08. Juni der ganz aktuell das poli­tis­che Dilem­ma beim Tihange-Doel-Lin­gen-Kom­plex auf den Punkt bringt.


Export zum Ernstfall

Reak­tor­sicher­heit Deutsch­land liefert die Brennstäbe für Bel­giens mar­o­de Meil­er. Das Bun­desumwelt­min­is­teri­um kön­nte das stoppen

Es ist schon ungewöhn­lich genug, wenn Nuk­lear­ex­perten ver­schieden­er Län­der zu ein­er gemein­samen Ein­schätzung kom­men und diese auch noch öffentlich kund­tun. Alarmierend ist es, wenn ihr Urteil ver­nich­t­end aus­fällt. Es geht um Bel­giens Atom­meil­er Tihange 2 und Doel 3. Dort wur­den in den let­zten Jahren Tausende Risse in den Reak­tor­druck­be­häl­tern ent­deckt. Die zur Aach­en­er Tihange-Kon­ferenz gelade­nen unab­hängi­gen Wis­senschaftler des Atom­forsch­er-Net­zw­erks INRAG stell­ten klar: Der Betrieb von Tihange 2 – wie auch der von Doel 3 – ist nach inter­na­tion­al anerkan­nten Maßstäben wed­er sich­er noch zuläs­sig. Aus­gelöst durch einen gewöhn­lichen Stör­fall kön­nte der Reak­tor­druck­be­häl­ter auseinan­der­brechen, wom­it inner­halb kürzester Zeit große Men­gen radioak­tiv­er Stoffe freige­set­zt und weite Land­striche auch im benach­barten Nor­drhein-West­falen verseucht wür­den. Wohlge­merkt: Es sind Fach­leute, die das sagen, keine Atomkraftgegner.
Die Dimen­sion der Gefahr zeigt sich vor allem in Details: René Boo­nen von der Uni­ver­sität Löwen in Bel­gien errech­nete anhand der Mate­ri­aleigen­schaften von Doel 3, dass bei der Her­stel­lung des Druck­be­häl­ters höch­stens 1.500 Risse ent­standen sein kön­nen, aber niemals die Anzahl von 11.600, die im Stahl gefun­den wurde. Sie müssen sich während des Betriebs gebildet haben – eine unkon­trol­lierte Ausweitung der Risse wäre also möglich. Ein solch­es Szenario würde keine Atom­auf­sicht der Welt für akzept­abel hal­ten. Die bel­gis­che Auf­sicht FANC ver­sucht deshalb, den Weit­er­be­trieb allein damit zu recht­fer­ti­gen, dass sie jene Erken­nt­nisse für null und nichtig erk­lärt. Doch selb­st wenn ihre Hypothese zuträfe, müssten Tihange 2 und Doel 3 vom Netz genom­men wer­den. Wie Wolf­gang Ren­neberg, der frühere Leit­er der Abteilung für Reak­tor­sicher­heit im Bun­desumwelt­min­is­teri­um, dar­legte, hätte man Risse in der Anzahl und Größe beim Her­stel­lung­sprozess nicht überse­hen kön­nen. Wären stark betrof­fene Stahlringe in zwei Reak­toren ver­baut wor­den, würde das auf grobe Manip­u­la­tio­nen bei Genehmi­gungsver­fahren hin­deuten. In jedem Fall ist die Betrieb­s­genehmi­gung rechtswidrig und damit ungültig – eine Tat­sache, die die FANC ignoriert
Angesichts der Brisanz des The­mas ver­wun­dert, dass Bun­desumwelt­min­is­terin Sven­ja Schulze (SPD) bei ihrem Antritts­be­such in Bel­gien am 22. Mai nicht die Stil­l­le­gung der Ris­sereak­toren forderte. Sie gab sich damit zufrieden, dass Bel­giens Innen­min­is­ter Jan Jam­bon beteuerte, die Laufzeit für Tihange 2 und Doel 3 nicht zu ver­längern. Akzep­tiert sie etwa den Weit­er­be­trieb um vier oder fünf Jahre? Auf Anfrage ließ Schulze mit­teilen, eine vorüberge­hende Stil­l­le­gung der Reak­toren hielte sie für notwendig, solange die Sicher­heit­snach­weise fehlten. Wie die INRAG-Wis­senschaftler erk­lärten, kön­nen die entschei­den­den Sicher­heit­snach­weise nachträglich gar nicht erbracht wer­den. Doch diese Exper­tise find­et im Bun­desumwelt­min­is­teri­um offen­bar keine Beach­tung. Stattdessen ver­weist Schulze auf ein Fachge­spräch mit der FANC, dessen Auswer­tung noch andauere. Es wirkt wie eine Hin­hal­te­tak­tik und sorgt bei denen, die seit Jahren dafür kämpfen, der Bedro­hung aus Tihange nicht mehr aus­ge­set­zt zu sein, für Unmut. „Was muss denn noch alles passieren, bevor die Poli­tik nicht nur prüft und abwartet, son­dern han­delt?“, fragt Wal­ter Schu­mach­er vom Aach­en­er Bünd­nis gegen Atom­en­ergie. Deut­lichere Worte fand die Min­is­terin bei ihrem Bel­gien-Besuch bezüglich Tihange 1, Doel 1 und Doel 2. Anlass zur Sorge bieten die über 40-jähri­gen Atom­meil­er alle­mal, auch in Fachkreisen. Schon ausle­gungs­be­d­ingt fehlen ihnen die üblichen Sicher­heit­sre­ser­ven. Die zunehmende Ver­sprö­dung des Mate­ri­als kor­re­spondiert mit ein­er Häu­fung ern­ster Stör­fälle. In Tihange 1 trat­en ungewöhn­lich viele Pre­curs­er-Fälle auf, das sind Ereignisse mit Poten­zial zum GAU. In Doel 1 rät­selte man vor einem Monat über ein Leck, durch das ins­ge­samt 6.000 Liter hochra­dioak­tives Wass­er aus dem Primärkreis­lauf entwichen. Laut Man­fred Mertins, Experte für Reak­tor­sicher­heit, war der Unfall brisant, weil ern­sthaft etwas aus dem Rud­er hätte laufen kön­nen. Skan­dalös ist, dass die FANC den Stör­fall zuerst ver­heim­lichte, dann ver­harm­loste und Details nur auf öffentlichen Druck hin preisgab.

Was steht im Atomgesetz?

Die Kri­tik der Bun­desumwelt­min­is­terin an den drei mar­o­den Meil­ern gerät jedoch in Ver­dacht, von der Gefahr zweier ander­er, eben­falls mar­o­der Meil­er abzu­lenken. Noch entschei­den­der ist: Wird Schulze die deutsche Bei­hil­fe zum Weit­er­be­trieb der Risikomeil­er in Gren­znähe been­den? Bish­er wur­den vier der fünf erwäh­n­ten Meil­er von der Lin­gener Bren­nele­mente­fab­rik ANF beliefert, Doel 1 und 2 sog­ar seit Jahrzehn­ten. Deren Betrieb ist in hohem Maße abhängig von speziellen Bren­nele­menten, die offen­bar nur in Lin­gen hergestellt wer­den. Der let­zte Nach­schub kam im April, kurz vor Ablauf der alten Aus­fuhrgenehmi­gung. Dem­nächst muss Schulze über neue Anträge entschei­den. Sie sollte dabei die betrof­fene Bevölkerung im Blick haben. Eine vom Umweltin­sti­tut München beauf­tragte For­sa-Umfrage ergab, dass zwei Drit­tel der Wahlberechtigten in Nor­drhein-West­falen und Nieder­sach­sen einen Export­stopp für deutsche Bren­nele­mente befür­worten, genau­so wie eine schnelle Schließung der Atom­fab­riken in Lin­gen und Gronau. Die drit­thöch­ste Zus­tim­mung kam mit 71 Prozent von der SPD-Anhänger­schaft. Schulze muss sich auf Protest gefasst machen, schon für kom­menden Sam­stag ist eine Demon­stra­tion in Lin­gen angekündigt, organ­isiert von einem bre­it­en Anti-Atom-Bündnis.

Ihre Amtsvorgän­gerin Bar­bara Hen­dricks (SPD) scheute den Kon­flikt mit Bel­gien. Sie prangerte Tihange 2 und Doel 3 zwar öffentlich an, genehmigte aber zeit­gle­ich deren Beliefer­ung aus Deutsch­land und behauptete, von Rechts wegen bliebe keine andere Wahl. Dabei ist es eher umgekehrt: Mit der Dul­dung der Exporte beg­ibt sich jede Umwelt­min­is­terin juris­tisch auf dünnes Eis. Die Umwel­trecht­lerin Cor­nelia Ziehm legte schon 2016 in einem Gutacht­en dar, dass nach Artikel 3 des Atom­ge­set­zes die Aus­fuhr von Kern­brennstof­fen nur genehmigt wer­den darf, wenn gewährleis­tet ist, dass sie „nicht in ein­er die innere oder äußere Sicher­heit der Bun­desre­pub­lik gefährden­den Weise ver­wen­det werden“.
Wolf­gang Ewer, der von Hen­dricks beauf­tragte Gegengutachter, ver­suchte den Wort­laut zu entkräften. Gemeint sei nicht, die Bevölkerung zu schützen, son­dern nur den Staat und seine Funk­tion. Dass der Geset­zge­ber die Gefahr durch ver­ant­wor­tungslose AKW-Betreiber nicht im Blick hat­te, ist erk­lär­bar, in Deutsch­land wurde damals noch kein Atom­strom pro­duziert. Der Umkehrschluss, den Ver­wal­tungsrechtler Ewer vorn­immt, ist jedoch unzuläs­sig: Abzuwen­den sei auss­chließlich die Gefahr durch Miss­brauch der Brennstoffe zu mil­itärischen Zweck­en. Eine Beschränkung darauf ist wed­er im Atom­ge­setz erwäh­nt, noch in Geset­zes­be­grün­dun­gen. Selb­st mit Ewers Def­i­n­i­tion dürfe keine Aus­fuhrgenehmi­gung erteilt wer­den, meint Wolf­gang Ren­neberg. Denn durch einen Super-GAU, der im Fall von Tihange „im Bere­ich des prak­tisch Möglichen“ liegt, wäre „selb­stver­ständlich der Bestand des Staates betrof­fen“. Darüber hin­aus habe der Schutz von Leben und Gesund­heit auch in euro­parechtlichen Abkom­men einen höheren Stel­len­wert als die Frei­heit des Waren­verkehrs oder der Ver­trauenss­chutz. Ewers Gutacht­en, urteilt Ren­neberg, sei „als Entschei­dungs­grund­lage unbrauch­bar“, da es „den Sachver­halt nicht erfasst, um den es geht“. Die Regierung wolle rechtlich prüfen, wie ver­hin­dert wer­den kann, „dass Kern­brennstoffe aus deutsch­er Pro­duk­tion in Anla­gen im Aus­land, deren Sicher­heit aus deutsch­er Sicht zweifel­haft ist, zum Ein­satz kom­men“. So ste­ht es im Koali­tionsver­trag. Viel zu prüfen gibt es da eigentlich nicht.

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3 Kommentare

  1. Der emo­tionale Supergau

    Das bel­gis­che Roulette entspricht dem rus­sis­chen Roulette. Wen wird es tre­f­fen und wann? Die Span­nung steigt die gelassene Jury sind Ver­wal­tungs­beamte, Ord­nung­shüter unser­er Geset­ze. Die Spiel­regeln laut­en ein­fach, frei nach dem Lied von Gerd Schinkel — Katastropheneinsatzplan:

    “Es beste­ht kein Grund zur Aufregung,
    alle Maß­nah­men zur Beseitigung
    der Störung und ihrer Fol­gen sind schon im Gange.
    Bleiben Sie ruhig, es dauert nicht lange.”

    Mein Gemüt ist ger­ade erhitzt wie ein kleines Bren­nele­ment. Was gibt es denn angesichts der bei­den bel­gis­chen Ris­sereak­toren, Tihange/ Doel noch zu prüfen???
    Ich stelle mal eine ket­zerische Frage in den Raum: Haben Atom­kraftwerke über­haupt eine TÜV-Plakette, so wie es für jedes öffentliche Gebäude erforder­lich ist? Ich kon­nte gestern auf dem tris­ten grauen Stahlbe­ton­man­tel des Kühlturmes vom AKW Lin­gen beim besten Willen kein TÜV-Zer­ti­fikat ent­deck­en. Es hätte mich auch sehr gewun­dert. Welch­er TÜV-verei­digte Prüfer würde schon frei­willig seine Hand für ein Atom­kraftwerk ins Feuer legen?
    Es knis­tert im Getriebe. Aber nein, es beste­ht kein Grund zur Aufre­gung. Im Zweifels­fall gibt es für uns Jod mit der genialen Wirkung eines Pfef­fer­minzbonons. Wenn nun ein Reak­tor, sei es in Tihange, sei es in Doel in die Luft fliegen, dann lesen Sie bitte die Hin­weise auf der Ver­pack­ung oder fra­gen Sie Ihren Arzt oder Apothek­er. So wird Ihnen geholfen.
    Jet­zt muss ich meine kleinen inneren Bren­nele­mente, gesichert ein­ge­lagert zwis­chen Milz und Malz erst­mal löschen, als let­zte Maß­nahme vor einem emo­tionalen Supergau 🙂

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